Nachruf Ernest Rossi

Nachruf Ernest L. Rossi oder in vier Lebensphasen zum Numinosum

Erika Chovanec

(Zeitschrift Imagination: Dezember 2020)

 

Am 19. September 2020 ist einer der einflussreichsten amerikanischen Hypnotherapeuten, der amerikanische Psychologe, Psychotherapeut, Lehrer, Forscher and Autor Ernest Lawrence Rossi im 87. Lebensjahr in seiner privaten Bibliothek friedlich entschlafen.

 

Während der zwölf Jahre, in denen ich (E.C.) Dr. Rossi näher kennenlernen durfte, habe ich ihn vor allem als menschlichen Lehrer erlebt, der von der tiefen Überzeugung getragen war, dass in jedem seiner Mitmenschen und Patienten einzigartige Fähigkeiten stecken und der zugleich unentwegt danach strebte, seine eigenen Fähigkeiten zum Wohle der Menschheit zu nutzen. Er hat sich dazu einmal folgendermaßen geäußert: „Ich würde der Menschheit so gerne noch etwas mehr hinterlassen, das sie bereichert…“ Das war ihm letztlich auch möglich.


Erinnern wir uns an dieser Stelle gemeinsam an Dr. Rossi und daran, wie er unser Leben bereichert hat. Die folgenden – von seinen eigenen Aussagen durchzogenen – eschreibungen gehen auf persönliche Gespräche in den Jahren 2008 und 2012 zurück, in deren Veröffentlichung er einwilligte. Ich habe mir erlaubt, seinen Lebenslauf in die vier Phasen des kreativen Prozesses – Initiation, Inkubation, Illumination und Verifikation – einzuteilen, da diese Phasen auch einen wichtigen Teil seines therapeutischen Zugangs darstellen.

 

Phase 1: Initiation, Vorbereitungszeit

Ernest Rossi wurde als Sohn der italienischen Eltern Mary und Angelo Rossi in Connecticut geboren. Da in seinem Elternhaus ausschließlich Italienisch gesprochen wurde, hatte er anfangs Probleme, sich auf Englisch zu verständigen, wodurch seine Talente in der Schule anfangs nicht erkannt und seine Entwicklung als verzögert eingestuft wurde.

 

Als er aufs Gymnasium kam veränderte sich vieles. Aus dieser Zeit stammt auch die wohl bekannteste seiner Anekdoten, die jedes Mal schallendes Gelächter hervorrief, wenn er sie zum Besten gab: „Meine Eltern haben mich in eine Handelsschule eingeschrieben, weil sie wollten, dass ich ein Gewerbe in der Hand habe. Am ersten Schultag sind wir Kinder aus dem Bus  gestiegen und da sehe ich das beliebteste aller Mädchen wie es umringt von einem Schwarm anderer Schüler einem Schwan gleich in deren Mitte spaziert.“ Rossi erhebt sich und trippelt auf seinen Zehenspitzen, hebt den Kopf stolz nach oben und ahmt die eleganten und langsamen Bewegungen des Mädchens nach. „Sie ging so langsam und elegant. Ich wusste damals nichts von Hypnose, aber es ist mir wie Zeitlupe vorgekommen. In diesem Moment habe ich mir gedacht: Wenn du jetzt in die andere Richtung, also in die Handelsschule gehst, wirst du dieses wunderschöne Mädchen nie mehr wiedersehen! Und so bin ich wie hypnotisiert ihr hinterher ins Gymnasium anstatt in die Handelsschule gelaufen. Welche Überraschung war es für die Eltern, als sie erst Monate später davon erfuhren: Ernest, du solltest auf die Handelsschule gehen! Was ist passiert?!!"

 

In seiner Zeit am Gymnasium besserte Rossi sein Taschengeld auf, indem er in einer Apotheke aushalf. Diese Tätigkeit weckte sein Interesse für Biologie und während seine Eltern ihren Urlaub im Ausland verbrachten, bewarb er sich für ein Studium der Pharmazie. Das Geld für die Bewerbung lieh er sich heimlich von seinem Onkel, womit er seine Eltern nach deren Rückkehr erneut überraschte. Nach seinem Abschluss in Pharmazie studierte Rossi Psychologie an der Washington State University und später in der Temple University.

 

Rossi selbst erzählte oft, dass seine ersten Wege im Feld der Psychotherapie psychoanalytisch geprägt waren. Er wollte Freud verstehen und war fasziniert von der Welt der Träume. Eben diese Faszination war es auch, die ihn schließlich weiter zu C.G. Jung führte. In dieser Zeit arbeitete er am C. G. Jung Institute of Los Angeles. Dort verfasste er sein erstes Buch mit dem Titel „Dreams and the Growth of Personality“ (1972) und trat der International Association for Analytical Psychology bei.

 

Phase 2: Inkubation - Ideen reifen zu ihrer Offenbarung heran

Zunächst lernte Rossi Dr. Erickson eher zufällig als Patient kennen. Erickson erkannte jedoch schnell, dass Rossi eigentlich zu ihm gekommen war, um zu lernen und so verbrachte Rossi in den folgenden acht Jahren je eine Woche im Monat bei ihm in Phoenix. Da es Erickson mit zunehmendem Alter immer schwerer fiel, seine Arbeit zu organisieren, half ihm Rossi engagiert und voller Elan seine Arbeiten in „Collected Papers“ zusammenzutragen und wurde deren Herausgeber. Zudem wurde er für Erickson zu einer Quelle der Inspiration und leistete entscheidende Beiträge zur Weiterentwicklung von dessen Arbeit. So entstanden in dieser gemeinsamen Zeit z.B. die Bücher „Hypnotic Realities“ und „Experiencing Hypnosis“.


In diesen Jahren befasste sich Rossi intensiv mit den Erickson`schen Techniken. „Ich habe acht Jahre lang jede Woche die Techniken geübt und dachte, ich werde der Meister der Erickson`sche Therapie“, erinnert er sich. „Und es war schön zu sehen, dass unter Anwendung ein- und derselben Technik die Reaktion des Patienten doch immer eine andere ist.“

 

Die Zeit mit Erickson war eine Zeit des Suchens nach sich selbst, man könnte sagen eine Inkubationszeit. Rossi erklärt dazu: „Im alltäglichen Leben war ich der Fahrer und Erickson saß als Beifahrer neben mir im Auto (Erickson saß im Rollstuhl). Aber während der acht Jahre hatte ich immer wieder den Traum, dass Erickson das Auto fährt und ich nur daneben sitze. Eigentlich war Erickson der Fahrer in unserer kollegialen Beziehung. Und schließlich habe ich ihm kurz vor seinem Lebensende die lustige Sache mit meinen Träumen, in denen er der Fahrer und ich der Passagier war, offenbart. Und Erickson sagte: „Ja, aber auch das wird sich mit der Zeit ändern…‘“

 

Phase 3: Illumination - die Fülle der kreativen Ideen offenbart sich


Diese Änderung vollzog sich schließlich Ende der 80er Jahre, als Rossi sich zunehmend mit Psychobiologie, Chronobiologie und Mathematik befasste. „Ich habe das Buch über Träume geschrieben… aber erst zwei Jahrzehnte später habe ich verstanden, dass man, um die Phänomenologie der Träume zu verstehen auf eine andere Ebene – die molekulare Ebene – blicken muss ... Einmal bin ich vor dem Buch gesessen, aus dem ich die Erickson`schen Techniken immer und immer wieder übte, und ganz natürlich und entspannt habe ich es plötzlich symbolisch geschlossen. Dann habe ich mich den Genen zugewandt… In dieser Zeit habe ich zum ersten Mal geträumt, mit Erickson im Auto zu fahren und selbst der Fahrer zu sein“, erinnert sich Rossi lächelnd.


In diesem Lebensabschnitt entwickelte Rossi einen theoretischen und praktischen Zugang, welcher verdeutlicht, inwiefern der vierstufige kreative Prozess (Wallas 1926) mit der chronobiologischen Dynamik des „Basic Rest Activity Cycle“ (Kleitman 1963) zusammenhängt und wie er sich in der therapeutischen Hypnose widerspiegelt. Dafür zeichnete er die einzelnen Verbindungen zwischen den verschiedenen Phasen der  Hypnose einerseits und der Proteinsynthese und Genexpression andererseits nach. Diesen Zugang hat Rossi in seinem Buch „The Psychobiology of Gene Expression“ ausführlich beschrieben.

 

Diese produktive Zeit der Ideen am Gipfel seiner Kreativität war jedoch auch von Schicksalsschlägen geprägt. Rossi erinnert sich: „Im Jahr 2002 habe ich das frisch fertiggeschriebene Transkript meines Buches Psychobiology of Gene Expression auf den Tisch gelegt. Ich habe kurz einen Blick darauf geworfen und mir gedacht: jetzt kann ich endlich in Pension gehen und sie genießen... Zwei Monate später habe ich in der Nacht einen Schlaganfall erlitten. Ich verlor teilweise mein Gedächtnis…“.

 

Stufenweise hat er sich wieder davon erholt und anschließend einen Artikel über neue Möglichkeiten der Rehabilitation nach Schlaganfällen verfasst, der auf seinen eigenen Erfahrungen basiert (Rossi 2004). Da er an die Existenz des Numinosum - im Sinne von Rudolf Otto (1923) – glaubte, waren in dieser Zeit der Rekonvaleszenz seine Erlebnisse mit intensiven Träumen und Erfahrungen die praktische Bestätigung der Hypothese, dass positive psychologische Erfahrungen den „Neuheits-NuminosumNeurogenese-Effekt“ auslösen.

 

In jener – wiederum sehr produktiven – Zeit entwickelte Rossi sowohl seine Methodik der „implicit processing heuristic“ als auch die berühmt gewordene „Rossi`s Hand Technique“ ständig weiter. In seiner Forschungsarbeit mit Collzollino et al. (2014) bestätigte sich deren klinische Wirksamkeit in Verbindung mit dem vierstufigen kreativen Prozess zur Rekonstruktion des Bewusstseins, Gedächtnisses und Verhaltens im Rahmen der therapeutischen Hypnose auch auf der molekularer Ebene.

 

Wer über Rossi schreibt, darf den großen Beitrag nicht unerwähnt lassen, den seine Ehefrau Dr. Kathryn Rossi nicht nur auf familiärer Ebene geleistet hat. Über 30 Jahre lang hat sie ihrem Mann – ähnlich wie es zuvor Rossi bei Erickson tat – unermüdlich dabei geholfen, seine Arbeit zu systematisieren, zu organisieren und zu bereichern und in zahlreichen Büchern und Artikeln zu veröffentlichen. In unzähligen psychotherapeutischen Einheiten war Kathryn das „dritte Auge“ Rossis, das dessen Blick für die „Minimal Cues“ der Patienten schärfte. Sie trug zudem aktiv zur Erweiterung der Sichtweisen ihres Ehemannes bei und entwickelte einen eigenständigen wertvollen Zugang zur Nutzung von Yoga in der Psychotherapie.

 

Phase 4: Verifikation und Reintegration

Im Laufe seines Lebens erhielt Rossi eine Vielzahl von Anerkennungen und Auszeichnungen, darunter den Lifetime Achievement Award der American Association for Psychotherapy (2003) und ein Achievement in Science der Österreichischen Gesellschaft für Medizinische Hypnose (2019). Insgesamt hat Rossi 46 Bücher verfasst und/oder herausgegeben, über 400 Forschungsartikel in Fachzeitschriften veröffentlicht und war in acht verschiedenen Fachredaktionen tätig. Jenseits des beträchtlichen Beitrags, den er sowohl zur Zusammenschau des bedeutenden Erbes Ericksons als auch zu dessen Weiterentwicklung oder gar Transformation durch einen zusätzlichen psychobiologischen Zugang geleistet hat, hat sich Rossi in der Innovation des hypnotherapeutischen Vorgehens große Verdienste erworben.

 

Indem er von den indirekten Suggestionen Ericksons zur „implicit processing heuristics“ überging ermöglichte er die mutige Modernisierung der Hypnosepsychotherapie. Er selbst sagt dazu: „Ich suggeriere nur ganz selten im Sinne Ericksons, die meiste Zeit impliziere ich... Erickson war indirekt, Rogers war nondirektiv und ich bin implizit.“

 

In seinem therapeutischen Vorgehen ließ Rossi die Position des Hypnosepsychotherapeuten in einem neuen Licht erscheinen. Viele Male habe ich erlebt, wie er den Zeigefinger an den Mund legte und mir mit seinem Blick die Botschaft vermittelte: „Ich weiß was ich tue, jetzt ist Stille angesagt“. Es war ein mutiger Zugang, alle Kontrollinstrumente des Hypnosetherapeuten aus der Hand zu geben und erforderte sowohl therapeutische Reife als auch ein tiefgreifendes Wissen sowie ein immenses Vertrauen in die heilenden biochemischen Prozesse des Körpers. All das erinnert ein wenig an den Übergang des Sigmund Freud von Hypnose zu freiem Assoziieren, jedoch auf einer modernen genorientierten Ebene des 21. Jahrhunderts.

 

Warum verfolgte Rossi eine solche Vorgehensweise? „Ich sehe mich nicht als Heiler, die Natur heilt und ich beobachte.“, erklärt er dazu. In seiner Arbeit findet sich ein Gegensatz zwischen der Komplexität seiner schriftlichen Werke und der erstaunlichen Einfachheit seiner therapeutischen Methoden. Je mehr Wissen ihm die einzelnen Richtungen und Disziplinen der Wissenschaft über die Kraft der Gene boten, desto mehr hat er sich selbst aus Respekt vor ihr zurückgenommen.

 

Rossis therapeutische Einstellung dem Patienten gegenüber war von einer „nichtwertenden Wahrnehmung“ geprägt. Als Therapeut hatte er ein brillantes Fingerspitzengefühl und die Fähigkeit den Patienten mitfühlend und bedingungslos zu  akzeptieren. Für Rossi war diese wertschätzende und offene Einstellung eine Voraussetzung dafür, dass der Therapeut den Patienten als Numinosum  (Überraschung, Wunder) erkennen und wahrnehmen kann. Über diesen aufgeschlossenen Zugang förderte er außerdem die essenzielle menschliche Fähigkeit der kreativen Erfahrung der „Art, Beauty and Truth“ und damit auch das Numinosum aufseiten des Patienten.

 

Als Therapeut aber auch als Mensch war Rossi stets freundlich, herzlich und bescheiden. In seiner Anwesenheit waren Echtheit und Spontaneität spürbar. Über die Jahre ist er uns Schülern beinahe wie ein zweiter Vater und mit Sicherheit ein guter Freund geworden. Jeden von uns behandelte er so, als würden wir zu seiner Familie gehören und in jedem von uns sah er ein kreatives Potential. Ähnlich wie Erickson seinen Schülern die Besteigung des Squaw Peak empfohlen hatte, förderte Rossi bei seinen Schülern das Numinosum – also das Gefühl der Faszination – dadurch, dass er mit uns unvergessliche Ausflüge zu seinem Lieblingsort am Ozean, „Montana de Oro”, unternahm.


Rossi hat unser Wissen bereichert und seine kreative Botschaft des Numinosum, der Echtheit und der Menschlichkeit haben deutliche Spuren hinterlassen: bei allen, die ihn persönlich kannten, aber auch bei all jenen, die seine Bücher und Artikel lesen und seine einzigartigen Methoden in täglicher psychotherapeutischer Arbeit anwenden. Wie alle bedeutenden Lehrer wird er für immer als Meister der genialen Einfachheit gepaart mit wissenschaftlicher Komplexität, vor allem aber als Meister der bedingungslosen Akzeptanz und Liebe gegenüber jedem Menschen, in unserer Erinnerung weiterleben.

 

Literatur
Cozzolino, M., Tagliaferri, R., Castiglione, S., Fortino, V., Cicatelli, A., De Luca, P., Rossi, E. (2014): The creative psychosocial and cultural genomic healing experience: A new top-down epigenomic psychotherapeutic protocol. The International Journal of psychosocial Genomics: Consciousness and Health Research 1 (1): 18–25

Erickson, M., Rossi, E., & Rossi, S. (1976): Hypnotic Realities: The Induction of Clinical Hypnosis and Forms of Indirect Suggestion. New York: Irvington Erickson, M., & Rossi, E. (1981): Experiencing Hypnosis: Therapeutic Approaches to Altered States. New York: Irvington

Kleitman, N. (1963): Sleep and Wakefulness as Alternating Phases in the Cycle of Existence. Chicago, Ill: University of Chicago Press

Otto, R. (1923/1950): The Idea of the Holy. New York: Oxford University Press

Rossi, E. (1972): Dreams and the Growth of Personality. New York: Pergamon Press

Rossi, E. (2002): The Psychobiology of Gene Expression: Neuroscience and Neurogenesis in Hypnosis and the Healing Arts. New York: Norton

Rossi, E. (2004): Gene Expression and Brain Plasticity in Stroke Rehabilitation: A Personal Memoir of Mind-Body Healing Dreams. American Journal of Clinical Hypnosis 46 (3): 215-227

Wallas, G. (1926): The Art of Thought. New York: Harcourt

Autorin:
Dr. Erika Chovanec
Hypnosepsychotherapeutin

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